Mittwoch, 26. Dezember 2012

Unter Bauern - die Filmkritik


"Unter Bauern - Retter in der Nacht". Der Film, dessen Welt-Uraufführung wir im August 2009 bei den Filmfestspielen in Locarno erleben durften.
Nach dem Ende des Films schwieg damals das Publikum und hielt einen spürbaren Moment inne, bevor der Applaus aufbrandete. Hinter den Zuschauern lagen genau hundert beeindruckende Minuten Film in bester europäischer Tradition. Differenziert, feinfühlig und unsentimental wird die Geschichte der Marga Spiegel und jene der mutigen Bauern in Westfalen erzählt, die sie und ihre Familie zwischen 1943 und 1945 versteckten und so vor der Deportation retteten. Marga Spiegel hat 1965 unter dem Titel "Retter in der Nacht" ihre Überlebensgeschichte veröffentlicht, was damals für erhebliche Kontroversen sorgte. Zu dieser Zeit erschien die Suche nach den "guten Deutschen", welche keine Nazis waren, oder gar aktiv den Verfolgten geholfen hatten, vielen pauschal als weiterer Versuch, die deutsche Vergangenheit zu verharmlosen. Erst nachdem Steven Spielberg mit "Schindler's Liste" dieser Suche sozusagen von aussen die political correctness erteilte, wurde das Thema auch im deutschen Kulturbetrieb salonfähig.
Die Verfilmung nun lebt von vielen intimen und sprechenden Gesten.In seinen guten Momenten schafft er sehr erfolgreich die Vermittlung des Gefühls der absoluten Angst und Verunsicherung einer vormals funktionierenden ländlichen Gesellschaft. Veronika Ferres gibt die zumeist ernste, aber kaum verängstigte, kluge Frau und eine warmherzige Mutter. Armin Rohde überzeugt als Pferdehändler Menne Spiegel, der abseits, aber nahe bei Frau und Kind ums Überleben kämpft. Besonders brillieren als das Bauernehepaar Aschoff die resolut- ruppige Margarita Broich und der nachdenkliche, aufrechte Martin Horn, der dank Charakterkopf und Haltung einem alten Schwarz-Weiß-Foto in deutschen Familienalben entsprungen scheint. Mir besonders gefallen hat die junge Lia Hoensbroech. Inbrünstig zeigt sie die Wandlung der Anni Aschoff vom BDM-Jungmädel zur überzeugten Widerstandskämpferin. Ebenso wie die Ferres konnte Lia Hoensbroech aus authentischer Quelle schöpfen: Anni Aschoff,heute 85, und Marga Spiegel, in diesem Jahr gesegnete 100 Jahre alt geworden, haben die Dreharbeiten begleitet und waren damals beide persönlich zum Pressetermin und zur Ur-Aufführung in Locarno erschienen.
Regisseur Ludi Boeken stellte auf der Festival Bühne seinen Film und das Team vor und zitierte zum Schluss die Thora: "Wer eine Seele rettet, rettet die ganze Welt." Dass die Retter nun in seinem Film selbst Deutsche sind, die sehr wohl zu wissen scheinen, was mit den deportierten Juden geschieht, sah Boeken ambivalent: "Vielleicht geht der Film manchen gegen den Strich, weil er nicht gerade eine Lektion in political correctness ist." Man kann trefflich streiten über den Film und es ist auch schon heftig gestritten worden in Locarno, wie den örtlichen Medien zu entnehmen war. Ist das nun die Verniedlichung der Geschichte, diese mit attraktiven Schauspielerinnen bevölkerte Überlebensgeschichte deutscher Juden unter deutschen Bauern? Ist es realistisch, wenn nur ein paar überzeugte Nazis das Dorf bevölkern und der Rest der Bauern katholisch blieb? Der Film wurde gstern von zahlreichen Mitgliedern der Equipe auf der Piazza präsentiert, darunter Veronica Ferres und die beiden noch lebenden Protagonistinnen des Films, Marga Spiegel und Anni Aschoff. Marga Spiegel sagte damals, sie möchte den Film als Mahnung verstanden wissen. "Ich bin der Meinung, dass viel viel mehr jüdische Menschen hätten gerettet werden könnten, wenn es mehr Menschen gewollt hätten", so die damals 97jährige wörtlich. Der Film spielt im Westfälischen und setzt auch den wenigen Menschen ein Denkmal, denen der Bischof in Münster näher war als der Führer. Ich persönlich fand den Film mutig, berührend und ergreifend und empfehle ihn Euch gerne.
Diese Kritik fasst zwei Einträge zusammen, die ich im August 2009 und im Herbst 2010 zum Kinostart bereits im Tara-Blog zu diesem Film publizierte.